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This is a report written by Benjamin Fritz who volunteered for two months in Janwaar and helped us to build the new skatepark.
Von Benjamin Fritz
Benjamin Fritz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Industrial Ecology (INEC), war zwei Monate lang bei einem ungewöhnlichen Hilfsprojekt in einem abgelegenen indischen Dorf. Als passionierter Skateboarder hat er für die NGO The Rural Changemakers e.V. beim Bau eines Skateparks für die Kinder des Dorfes mitgeholfen und die dortigen Verhältnisse und Probleme hautnah kennengelernt. Doch ein Skatepark im tiefsten Indien, in dem es kein sauberes Trinkwasser gibt und ein Großteil der Dorfbewohner unterhalb der Armutsgrenze lebt? Macht das Sinn?
Es ist der 13. Dezember 2019, 5 Uhr morgens.
Seit sieben Stunden hat der Himmel seine Pforten geöffnet, und es regnet Bindfäden. Vor sechs Stunden ist mir aufgefallen, dass mein kleines Zimmer auf dem indischen Bauernhof undicht ist. Ich beschließe, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen und später auf der Baustelle Abhishek, den Studenten aus Delhi, um seine Übersetzungskünste zu bitten.
Vor zehn Tagen sind mein Freund Timo und ich von Frankfurt nach Delhi geflogen, nach 12 Stunden Zugfahrt und einer Stunde Motorradfahrt durch die atemberaubende Natur des Panna Nationalparkes sind wir in dem kleinen Dorf Janwaar angekommen. Dieses Dorf liegt mitten im Herzen Indiens, im Bundesstaat Madhya Pradesh, der zu den ärmsten des Landes zählt. In 180 Häusern leben schätzungsweise 1.200 Einwohner, davon rund 300 Kinder. Hier helfen wir zwei Monate lang beim Bau eines Skateparks und lernen dabei Land und Leute kennen.
Heute Morgen gibt es Poha. Das sind flache, gebratene Reiskörner mit Gewürzen, Chilli und Koriander. Serviert und gekocht werden darf ausschließlich von der Ehefrau. Die Familie gehört zur Kaste der Yadav und lebt sehr traditionell. Gastgeber und Gäste sowie Männer und Frauen essen daher niemals zusammen. Timo und ich sitzen auf den orangefarbenen Plastikstühlen vor seinem Zimmer und spülen gerade die letzten Bissen mit frisch gebrühtem Chai hinunter, bevor es wieder los zur Baustelle geht.
Wir haben schnell gemerkt, dass in Janwaar viele Dinge aus westlicher Sicht nicht richtig laufen. Armut, unzureichende Schulen, keine Gleichstellung der Geschlechter, Zwangsehen, kein Zugang zu sauberem Trinkwasser, fehlende Kanalisation, Arbeitslosigkeit, Unterdrückung niederer Kasten, Alkoholismus und Spielsucht. Im Prinzip alle Dinge, die laut der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen nicht sein sollten.
Als Mitarbeiter im Nachhaltigkeitsbereich habe ich bereits einige Entwicklungs- und Schwellenländer bereist und weiß, wie wichtig ein Verständnis unterschiedlicher Kulturen ist. Das INEC war bereits in mehreren Projekten mit Indien involviert und ist bestrebt, die Zusammenarbeit in diesem Land zu vertiefen.
Ulrike Reinhard, Gründerin des NGO Rural-Changemakers e.V., hatte bereits 2014 ihren ersten Skatepark in Janwaar gebaut und stand bei vielen weiteren Skatepark-Bauprojekten in Indien mit Rat und Tat zur Seite. Ihr Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der Entwicklung des Dorfes Janwaar. Mit ihren Projekten hat sie schon namhafte Sponsoren werben können und es jüngst sogar in die britische Tageszeitung „The Guardian“ geschafft.
Mit dem ersten Skatepark in Janwaar gab es im Laufe der Jahre immer wieder Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten zwischen Landbesitzern, dem später gegründetem NGO, Janwaar Castle Community Organization, und Ulrike. Eine Geschichte, wie Ulrike sie schon oft in Indien erlebt hat, mit Intrigen, Lügen und Gier. Willkürliche Schikanen wie z.B. Nutzungsgebühren für den alten Skatepark oder ein generelles Verbot der Nutzung machten einen neuen Skatepark notwendig. Der neue Skatepark ist außerdem in seiner Architektur stärker für das sogenannte Street Skateboarding ausgerichtet.
Skateboarding ist für Ulrike, die aus Heidelberg stammt, ein Mittel zum Zweck. Die Skateboarding-Kultur ist gezeichnet von einer Gegenbewegung zum Mainstream. Die heutige indische Gesellschaft ist gezeichnet durch strenge Regeln und Bräuche, in den ländlichen Regionen noch viel stärker als in den Metropolen Mumbai oder Delhi.. Das komplette Gegenteil dessen, was Skateboarding ausmacht. Auf Neudeutsch könnte man den Skatepark also als eine Art „disruptive technology“ für das Dorf verstehen.
Nach wenigen Minuten zu Fuß vom Bauernhof unserer Gastfamilie, vorbei an Feldern und Kühen, gelangen wir zur Baustelle. Das Team besteht in der Regel aus rund fünf Maurern aus der Umgebung, acht Frauen aus dem Dorf, sechs Volontären aus Europa und Indien, Ulrike als Bauleitung, jeder Menge Kinder während der Schulpausen und einigen Hunden. Gegen 8 Uhr morgens, wenn wir mit der Arbeit beginnen, ist es noch kühl. In der Regel machen wir Feierabend mit Einbruch der Dunkelheit. Die Arbeit ist anstrengend, da wir – abgesehen von zwei motorisierten Betonmischern, einer Wasserpumpe und einer Handkreissäge – auf manuelle Arbeit angewiesen sind. Die härteste Arbeit aber übernehmen die Frauen.
Ich erinnere mich gut an eine Situation, als wir den Boden des Skateparks betonierten. Ich half gerade den Frauen beim Schleppen der schweren Schüsseln mit Steinen, als einer der Mauerer mir zu verstehen gab, ich solle damit aufhören. Dies sei Frauenarbeit. Ich solle doch besser beim Betonglattstreichen helfen, die Frauen kämen mit den schweren Steinen schon alleine zurecht. Von den Frauen wird erwartet, zusätzlich zu der harten Arbeit auch noch ihren häuslichen Pflichten nachzukommen. Diese patriarchalischen Strukturen sind keineswegs eine Besonderheit für Janwaar, sondern Realität in weiten Teilen Indiens. Ich erlebe sie auch abseits der Baustelle im alltäglichen Leben. Mein Eindruck ist, dass dieses Bild des Mannes als stärkeres Geschlecht in den hinduistischen Familien, sprich in dem Kastensystem, noch stärker ausgeprägt ist. So dürfen hier die meisten Frauen nicht einmal den Bauernhof verlassen.
Ulrike Reinhards vorrangiges Ziel ist es nicht, indischen Kindern das Skaten beizubringen. Vielmehr sollen damit Veränderungen beschleunigt werden. Dazu gibt es zwei wichtige Regeln, die jedes Kind im Dorf kennt. Die erste Regel besagt: „No school, no skateboarding!“. Dies bedeutet, dass alle Skateboards, Schoner und Helme nur an die Kinder ausgegeben werden, die auch am Schulunterricht teilgenommen haben. Seitdem das Skaten im Dorf möglich ist, besteht in der Schule ein enormer Andrang. Es mussten schon weitere Lehrer eingestellt werden. Als nächstes ist es wichtig, dass auch Mädchen skaten dürfen, daher heißt die zweite Regel: „Girls first!“. Die Mädchen haben Vorrang, sollte die Anzahl an Skateboards mal nicht für alle Kinder ausreichen, die gerade skaten wollen..
Inzwischen ist der erste Monat um, und mein Freund Timo und ich wohnen für den zweiten Monat in einer neuen Gastfamilie. Das ist von der NGO so gewollt, um möglichst viele Eindrücke aus dem Dorf mitzunehmen. Die neue Familie gehört den Adivasi an, einer indigenen Bevölkerungsgruppe in Indien, die stark unterdrückt wird und in der Hierarchie sogar noch unter den untersten Kasten steht. Mein persönlicher Eindruck ihrer Kultur in dem Monat, in dem ich an ihrem Alltag nehmen durfte, ist, dass es in meinen Augen herzlicher zugeht. Die ganze Familie isst zusammen. Man versucht sich so gut es geht zu unterhalten. Auch die Traditionen sind aus westlicher Sicht weniger hierarchisch und altmodisch. So gab es mehrere Situationen, in denen auch mein Gastvater Essen zubereitet oder den Innenhof gefegt hat.
Unsere Projektleiterin Ulrike vertritt die Meinung, dass eine NGO nur von sich behaupten kann, Erfolg gehabt zu haben, wenn es irgendwann einmal nicht mehr gebraucht wird. Darum arbeitet sie ganz gezielt mit einigen besonders engagierten Jugendlichen aus dem Dorf an ihrem Ausstieg. Hierzu haben die Jugendlichen bereits The Barefoot Skateboarders Organization gegründet. Um das nötige NGO-Handwerk zu erlernen und ihr Englisch zu verbessern, gehen diese Kinder im Rahmen des Open School Project auf eine Schule in Delhi. Zusätzlich zu den regulären Schulfächern werden sie hier über Probleme unterrichtet, die spezifisch für die indischen Landbevölkerung, wie Agrarwirtschaft oder Hygiene wichtig sind. Mit diesem NGO haben sie schon Spenden in ersten Crowdfunding-Kampagnen gesammelt sowie Skateboard-Workshops an Schulen in Delhi gegeben.
Der Skatepark ist inzwischen so gut wie fertig, und für heute ist ein Ausflug mit unserer zweiten Gastfamilie zum Picknicken im Dschungel geplant. Während die Eltern bereits vorgegangen sind, um einige Vorbereitungen zu treffen, kommen wir mit den Kindern der Familie nach. Die Kinder finden mühelos den Weg durch die für mich immer gleichaussehenden Bäume und Sträucher zu einem See. Am See ist bereits ein Teil der Familien am Zubereiten von Chapatis (das sind indische Fladen), unterdessen sind wir mit einigen anderen am Fischen. Mit großen Netzen waten die Männer und Frauen durch das kniehohe Wasser und fangen kleine Fische. Diese werden anschließend gewaschen, in einer Art Suppe gekocht und mit den Chapatis zusammen gegessen. Bei schönen Erlebnissen wie diesen kommt in mir der Gedanke hoch, wie wichtig das konkrete Erleben der Kultur und der sozialen Probleme abseits der Touristenzentren ist, um verstehen zu lernen und nach angemessenen Lösungen zu suchen. Skateboarding ist eine Möglichkeit. Lassen sie mich mit einem Konfuzius Zitat enden, das das Wesen von Ulrike Reinhards Tätigkeiten in Indien sehr gut beschreibt: „Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben.“